Resilienz von Lieferketten in Krisenzeiten
In einer zunehmend interdependenten und globalisierten Wirtschaft sind Lieferketten nicht nur das Rückgrat des internationalen Handels, sondern auch ein Indikator für die ökonomische Stabilität. Einblicke, Herausforderungen und Lösungen.
Die Unsicherheit in globalen Lieferketten
Die Welt hat in den letzten Jahren zahlreiche Krisen durchlebt – von der COVID-19-Pandemie, über geopolitische Spannungen wie den Ukraine-Konflikt bis hin zu Naturkatastrophen. Diese Ereignisse haben nicht nur die anfällige Natur moderner Lieferketten aufgedeckt, sondern auch die Notwendigkeit verstärkt, ihre Resilienz zu erhöhen. Wir betrachten die Auswirkungen dieser Krisen auf die globalen Lieferketten und stellen bewährte strategische Massnahmen vor, die Unternehmen ergreifen können, um sich gegen solche Schocks künftig abzusichern.
Ursachen und Auswirkungen von Lieferkettenstörungen
COVID-19-Pandemie: Eine globale Unterbrechung
Die Pandemie legte weltweit Lieferketten lahm: Produktionsstopps, blockierte Transportrouten und Materialengpässe trafen vor allem die Automobil-, Elektronik- und Pharmaindustrie. Die Halbleiterkrise ab 2020, ausgelöst durch Produktionsausfälle in Südostasien, führte zu massiven Engpässen. Gleichzeitig sank durch internationale Reisebeschränkungen die Luftfrachtkapazität erheblich. Um gegenzusteuern, wurden Passagierflugzeuge für Frachtzwecke umfunktioniert – ein Schritt, der vorübergehend half, die Nachfrage zu decken und finanzielle Verluste abzufedern. (dlr.de, ibisworld.com)
Geopolitische Krisen: Störungen im Rohstoff- und Energiesektor
Der Ukraine-Krieg hat die Abhängigkeit von russischen Energie- und Agrarlieferungen offenbart. Sanktionen und zerstörte Infrastrukturen führten zu Engpässen, insbesondere in Europa. Unternehmen mussten rasch ihre Beschaffungsstrategien anpassen. Auch die angespannte Lage zwischen China und Taiwan – mit Blick auf die globale Mikrochip-Produktion – erhöht das Risiko in sensiblen Industrien. Politische Unsicherheiten im nahen Osten oder Ostasien verdeutlichen, dass geopolitische Risiken zu einem strategischen Thema für alle Branchen geworden sind.
(gtai.de)
Naturkatastrophen und unerwartete Ereignisse
Naturkatastrophen wie der Taifun in Japan (2011), das Erdbeben in der Türkei (2023) oder Hurrikans in den USA (2023) zeigen, wie stark Lieferketten durch klimabedingte Extremereignisse beeinträchtigt werden können – selbst in hochindustrialisierten Regionen. Hinzu kommen singuläre Zwischenfälle wie die Blockade des Suezkanals 2021 durch die «Ever Given», die globale Lieferketten für Tage lähmte. Solche Vorfälle machen deutlich, wie wichtig vorausschauendes Risikomanagement und resilientere Strukturen sind. (IML, newbusiness.at, The New York Times)
Strategien zur Stärkung der Resilienz von Lieferketten
Um handlungsfähig zu bleiben und langfristige Stabilität zu gewährleisten, müssen Unternehmen ihre Liefernetzwerke widerstandsfähiger gestalten. Dieser Abschnitt beleuchtet zentrale Ansätze und bewährte Strategien, mit denen sich Resilienz in der Lieferkette systematisch aufbauen lässt.
1. Diversifikation von Lieferanten und Bezugsquellen
Ein entscheidender Hebel zur Stärkung der Resilienz ist die gezielte Aufgliederung von Lieferantenbeziehungen. Unternehmen setzen vermehrt auf Multi-Sourcing-Strategien, um die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern oder Regionen zu minimieren. Dies umfasst:
- Auswahl mehrerer Lieferanten pro Produktgruppe oder Komponente
- Kombination von Anbietern mit unterschiedlichen geografischen Standorten
- Zusammenarbeit mit Lieferanten unterschiedlicher Unternehmensgrössen (z. B. globale Konzerne und regionale Mittelständler)
- Aufbau alternativer Bezugsquellen für kritische Materialien oder Komponenten
Eine breit aufgestellte Lieferantenbasis erhöht die Flexibilität, reduziert Risiken im Falle regionaler oder politischer Krisen und erleichtert die schnelle Umstellung bei Ausfällen einzelner Lieferanten.
2. Transparenz und digitale Echtzeitüberwachung
Moderne Technologien wie IoT, KI-basierte Analyse-Tools und Blockchain ermöglichen eine tiefere Transparenz über die gesamte Lieferkette hinweg. Unternehmen investieren verstärkt in sogenannte Supply Chain Control Towers, um:
- Echtzeitdaten über Warenflüsse, Lagerbestände und Transportmittel zu erhalten
- Frühzeitige Warnungen bei Engpässen oder Verzögerungen zu generieren
- Proaktiv Massnahmen zur Umleitung oder Umverteilung von Ressourcen einzuleiten
Mit Hilfe digitaler Technologien können Unternehmen ihre Abläufe in Echtzeit überwachen. Zudem helfen automatisierte Prozesse und vorausschauende Datenanalysen (Predictive Analytics) schneller auf Veränderungen zu reagieren. Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) ermöglichen es, Engpässe frühzeitig zu erkennen und Produktions- sowie Logistikprozesse automatisch anzupassen. Das stärkt die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen.
3. Kollaboration und Partnerschaften
Eine resiliente Lieferkette ist kein isoliertes System, sondern basiert auf starker Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten. Unternehmen setzen vermehrt auf:
- Engere Integration von Zulieferern in die eigene Planung (Vendor-Managed Inventory, Collaborative Planning)
- Langfristige strategische Allianzen statt rein preisgetriebener Vertragsverhältnisse
- Plattformen zum Informationsaustausch und zur gemeinsamen Risikoanalyse
Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kann die Reaktionsgeschwindigkeit auf Störungen entscheidend verbessern.
4. Risikomanagement und Szenarienplanung
Proaktives Risikomanagement machen Lieferketten widerstandsfähiger gegenüber Schocks. Unternehmen etablieren spezialisierte Taskforces oder Risk Boards, die Gefahrenquellen systematisch bewerten und entsprechende Gegenmassnahmen einleiten. Dazu gehören:
- Regelmässige Risikobewertungen und Lieferantenaudits
- Entwicklung und Test alternativer Szenarien (z. B. Umleitung von Lieferungen, Ausweichrouten)
- Integration von Business-Continuity-Plänen in die Gesamtstrategie
Ergänzend kommen standortbezogene Strategien und strukturelle Anpassungen hinzu, die ebenfalls zur Risikoabsicherung beitragen:
- Strategische Lagerhaltung: Aufbau von Sicherheitsbeständen für kritische Komponenten zur Überbrückung kurzfristiger Engpässe
- Nearshoring: Verlagerung von Produktions- oder Beschaffungseinheiten in geografisch nähere Regionen zur Verkürzung von Transportwegen und Reduktion geopolitischer Risiken
- Hybridstrategien: Kombination globaler und regionaler Lieferquellen zur Steigerung der Reaktionsfähigkeit bei Störungen
5. Krisenkommunikation und Stakeholder-Management
Ein integraler Bestandteil des Risikomanagements ist eine klare Kommunikation im Krisenfall. Unternehmen müssen in der Lage sein, alle relevanten Stakeholder schnell und transparent zu informieren. Dies umfasst:
- Regelmässige Status-Updates für Lieferanten, Kunden und Geschäftspartner
- Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle zur Sicherstellung der Informationsverbreitung in Echtzeit
- Einbindung strategischer Partner in die Krisenbewältigung, um gemeinsam effektive Lösungen zu erarbeiten und den Betrieb aufrechtzuerhalten
6. Nachhaltigkeit und Resilienz zusammendenken
Studien zeigen, dass nachhaltige Lieferketten auch widerstandsfähiger sind. Umweltfreundliche und sozial verantwortliche Praktiken senken langfristig nicht nur Risiken (z. B. durch Regulierungen oder Reputationsschäden), sondern stärken auch die Anpassungsfähigkeit. Mögliche Massnahmen umfassen:
- Lokale Beschaffung zur Reduktion von CO₂-Emissionen und Abhängigkeit von globalen Transportwegen
- Auswahl ethisch handelnder Lieferanten mit nachgewiesener Krisenfestigkeit
- Aufbau von Kreislaufsystemen (Circular Economy), um unabhängiger von Primärrohstoffen zu werden

Fallbeispiele zur Stärkung der Resilienz von Lieferketten
Die strategische Anpassung von Unternehmen an Krisensituationen zeigt, wie widerstandsfähige Lieferketten in der Praxis aufgebaut werden können. Drei besonders hervorzuhebende Beispiele sind Apple, Tesla und Toyota, die durch spezifische Massnahmen ihre Lieferketten widerstandsfähiger gemacht haben und somit besser auf zukünftige Krisen reagieren können.
Apple: Geopolitische Diversifikation zur Reduzierung von Risiken
Apple hat seine Lieferkettenstrategie überarbeitet, um die Abhängigkeit vom chinesischen Markt zu verringern. Im Rahmen einer «China+1»-Strategie verlagert Apple zunehmend Produktionskapazitäten nach Indien und Vietnam. Diese Massnahme soll die Auswirkungen geopolitischer Spannungen und lokaler Krisen – etwa die Lockdowns in China während der COVID-19-Pandemie – abfedern.
Ergebnis: Die geografische Diversifikation innerhalb Asiens hat Apple geholfen, Lieferengpässe zu reduzieren und seine Produktionsbasis resilienter gegenüber globalen Störungen aufzustellen. (The Economic Times)
Tesla: Nearshoring zur Optimierung von Lieferwegen und Risikominimierung
Tesla verfolgt eine konsequente Nearshoring-Strategie, insbesondere mit dem Produktionsausbau Ausbau der Produktion in Mexiko. Das neue Werk in Nuevo León soll vor allem den nordamerikanischen Markt bedienen und die Abhängigkeit von asiatischen Lieferketten reduzieren. Durch die geografische Nähe profitieren Logistik und Beschaffung von kürzeren Transportwegen, niedrigeren Kosten und einer schnelleren Reaktionsfähigkeit auf Nachfrageschwankungen.
Ergebnis: Die Nähe zum Hauptmarkt ermöglicht Tesla eine höhere Flexibilität und stabilere Lieferzeiten. Gleichzeitig reduziert sich das Risiko geopolitisch bedingter Unterbrechungen. (Wikipedia)
Toyota: Krisenbewältigung durch Partnerschaften und Krisenmanagement
Toyota hat durch Partnerschaften mit Zulieferern und ein gut vorbereitetes Krisenmanagement seine Lieferkette widerstandsfähiger gemacht. Nach den verheerenden Erdbeben und Tsunamis in Japan 2011 intensivierte Toyota die Zusammenarbeit mit seinen Lieferanten, um Notfallpläne zu entwickeln und Lieferketten schnell wiederherzustellen.
Ergebnis: Diese enge Zusammenarbeit und das präventive Krisenmanagement haben es Toyota ermöglicht, die Auswirkungen von Naturkatastrophen schnell zu minimieren. Der Fokus auf partnerschaftliche Beziehungen und die systematische Integration von Krisenmanagement in die Unternehmensstrategie trugen massgeblich zur Resilienz der Toyota-Lieferkette bei. (SupplyChain247)
Fazit
Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, wie anfällig Liefernetzwerke sein können – und wie entscheidend ihre Resilienz für die langfristige Zukunftsfähigkeit von Unternehmen ist. In einer zunehmend instabilen Welt, in der geopolitische Spannungen, Naturkatastrophen und Pandemien zu ernsthaften Störungen führen können, reicht es nicht mehr, nur auf Effizienz zu setzen. Vielmehr erfordert es einen strategischen Wandel hin zu widerstandsfähigen, digitalen und kooperativen Lieferkettenstrukturen.
Die Fallbeispiele von Apple, Tesla und Toyota verdeutlichen, wie Unternehmen durch gezielte Diversifikation, geografische Anpassung und den Aufbau starker Partnerschaften ihre Lieferketten widerstandsfähiger machen. Unternehmen, die in die Resilienz ihrer Lieferketten investieren, schaffen sich nicht nur einen Wettbewerbsvorteil, sondern sichern sich eine stabile, nachhaltige Zukunft in einer unsicheren Welt.