Wissenschaft trifft Praxis
Nachhaltigkeit im Gebäudesektor war am 18. Juni 2025 im Fokus. Zu diesem Thema referierten Gerrit Hinkel von der Carbotech AG und Zoe Fränkle von der Rapp AG. In spannenden Beiträgen beleuchteten sie innovative Ansätze und konkrete Herausforderungen auf dem Weg zu einer klimaneutralen Bauweise.
Theorie und Praxis erscheinen auf den ersten Blick wie Gegensätze – in Wirklichkeit jedoch ergänzen sie sich auf entscheidende Weise. Genau dies verdeutlichten die Vorträge zum Thema «Nachhaltigkeit im Gebäudesektor» von Gerrit Hinkel (Carbotech AG) und Zoe Fränkle (Rapp AG).
Im ersten Vortragsteil beleuchtete Gerrit Hinkel die wissenschaftliche Sicht auf das Netto-Null-Ziel im Bauwesen. Ausgangspunkt war das Pariser Klimaabkommen, das eine Reduktion der Treibhausgasemissionen auf Netto-Null bis 2050 fordert – mit Zwischenzielen von -50 % bis 2030 und -82 % bis 2040. Der Gebäudesektor spielt dabei mit rund einem Drittel der Gesamtemissionen eine Schlüsselrolle. «Netto-Null» bedeutet, dass ein Gebäude über seinen gesamten Lebenszyklus – von der Erstellung bis zum Betrieb – keine Emissionen mehr verursacht. Priorität hat die Reduktion, verbleibende Emissionen müssen durch Senken ausgeglichen werden», erklärte Hinkel. Trotz Fortschritten bei Energieeffizienz und Nutzung erneuerbarer Energien im Betrieb werden die Emissionen aus der Gebäudeerstellung – die graue Energie – erst jetzt reguliert. Viele Neubauten verfehlen daher ihre Klimaziele bereits zu Projektbeginn.
Hier setzt das BFE-Projekt «Netto-Null im Hochbau» an, das methodische Grundlagen analysiert, Lücken identifiziert und konkrete Vorschläge zur Zielerreichung liefert. Ergänzend zeigt die Studie «Klimapositives Bauen», die von Carbotech in Zusammenarbeit Nova Energie erarbeitet wurde, anhand von acht Massnahmenfeldern (s. Box), wie Klimaschutz auf Gebäudeebene umgesetzt werden kann – bei Neubauten wie bei Sanierungen. Für Hinkel ist klar: Die Weichen sind frühzeitig in der Planung zu stellen.

Zoe Fränkle (Rapp AG) und Gerrit Hinkel (Carbotech AG) referierten zum Thema «Nachhaltigkeit im Gebäudesektor».
Praxisbeispiel Bollwerk: Nachhaltigkeit konkret umgesetzt
Im zweiten Teil präsentierte Zoe Fränkle das Umbauprojekt «Bollwerk» in Basel – ein gelungenes Beispiel für nachhaltiges Bauen in der Praxis des Architekturbüros Diener & Diener. Zwei ehemalige Bürogebäude wurden in 105 Wohnungen umgewandelt. Die Planung basierte auf drei Grundprinzipien: Bestandserhalt, Umnutzung und energetische Sanierung. «Die bestehende Tragstruktur blieb erhalten, was grosse Mengen grauer Energie einsparte», erläuterte die Projektleiterin Architektur.
Auch Treppenkerne und Erschliessung konnten übernommen werden – ein ökologischer und wirtschaftlicher Vorteil. Besonders innovativ: die neue Fassade mit integrierten Photovoltaikmodulen (BIPV). Sie erzeugt nicht nur Strom, sondern trägt gestalterisch zu einem einladenden Erscheinungsbild bei. Ihre Unterkonstruktion aus Holz ist witterungsgeschützt, einfach demontierbar und, wie die Fassade selbst, wiederverwendbar. Mit einer Fläche von 2’250 m² erzeugt sie jährlich rund 145’000 kWh Strom – genug für etwa 50 Haushalte. «Die farbliche Gestaltung schafft trotz technischer Bandfassade ein wohnliches Erscheinungsbild.»
Zugleich betonte Fränkle zwei Aspekte, die in der Umsetzung «ReUse» häufig unterschätzt werden. Erstens: Was auf dem Reissbrett überzeugend wirkt, stösst in der Praxis auf Materialverhalten, Umweltbedingungen und ökonomische Zwänge. Zweitens: Kreislaufwirtschaft erfordert Mut. «Wiederverwendbare Bauteile, recyclingfähige Materialien und suffiziente Bauweisen stehen noch immer vor regulatorischen und wirtschaftlichen Hürden.» Deshalb sei es entscheidend, Kreislaufprinzipien in frühen Projektphasen mitzudenken – auch wenn sich der Aufwand nicht (sofort) auszahlt. Es kann beispielsweise passieren, dass Materialien aus dem «ReUse» kurzfristig nicht mehr verfügbar sind oder mehrmals umgeplant werden müssen.
Weitere Informationen: Urbanes Wohnen in Basel
Kurzinterview mit Gerrit Hinkel
«Wissen muss anwendbar sein»
1. Warum ist Wissensvermittlung für dich so zentral?
Wissensvermittlung ist für mich eine Grundvoraussetzung, um voranzukommen. Beide Präsentationen haben gezeigt, wo wir beim Thema Nachhaltigkeit im Gebäudesektor stehen – aber auch, welche Lücken noch bestehen. Um diese zu schliessen, braucht es das Engagement aller Beteiligten. Und genau dieses Engagement erreichen wir nur durch gezielte Wissensvermittlung.
2. Wie hast du den Austausch im Rahmen von «Facettenreich» erlebt?
Ich fand dieses Format ausgesprochen bereichernd – vor allem, weil es über klassische Fachvorträge hinausgeht. Dort dominiert meist die Theorie, der direkte Austausch kommt zu kurz. Hier hingegen konnte Theorie mit einem konkreten Projekt verknüpft werden, was den Austausch praxisnah macht. Für mich persönlich ist dieser Dialog besonders wertvoll, weil ich direkt erfahre, was tatsächlich umsetzbar und machbar ist.
3. Was beschäftigt Unternehmen am meisten, wenn es um nachhaltiges Bauen geht?
Die zentrale Frage lautet fast immer: Was ist realistisch? Theorie darf kein Luftschloss sein – wir müssen gemeinsam mit unseren Kunden wissenschaftlich fundierte, aber praxistaugliche Lösungen erarbeiten. Es bringt niemandem etwas, wenn man Vorschläge präsentiert, die am Ende nicht umsetzbar sind. Unsere Aufgabe ist es, die Lücke zwischen Anspruch und Realität zu schliessen.
4. Wo liegt deiner Meinung nach der grösste Hebel für Veränderung?
In Projekten sind es oft konkrete Massnahmenpakete – wie zum Beispiel die acht Stossrichtungen für klimafreundliches Bauen. Darüber hinaus liegt der Schlüssel bei den Entscheidungsträger:innen. Nur wenn sie gut informiert und motiviert sind, können mutige und wirkungsvolle Entscheidungen getroffen werden. Genau hier müssen wir ansetzen.
5. Zum Schluss: Was gibt’s du Rapp mit auf den Weg?
Weitermachen! Ich habe gespürt, wie viel Herzblut bei Rapp in das Thema Nachhaltigkeit fliesst. Das ist nicht selbstverständlich – und genau dieser Spirit ist es, der uns als Branche gemeinsam voranbringt.
Acht theoretische Stossrichtungen der Carbotech:
1. | Mutig sein und ambitionierte Ziele setzen |
2. | Frühzeitige Entscheidungen treffen und hohe Ansprüche einfordern |
3. | Smarte und suffiziente Lösungen |
4. | Leichte Bauweisen wählen |
5. | Bauteile wiederverwenden |
6. | Biogene und einfache Materialien verwenden |
7. | Recyclingfähige Materialien bevorzugen |
8. | Treibhausgas-Intensitäten berücksichtigen |